Von Tanja Paar

Ob wir uns an der Hand gehalten haben? Die Erinnerung an den Hin- und Rückweg ist verschwunden, da ist allein die bloße Gegenwart dieses fürchterlich verrauchten Lokals. Es ist heiß und stickig, meine Wangen glühen. Auch vor Begeisterung. Es ist nicht wirklich ein Restaurant, obwohl es diesen Namen trägt. Mehr eine Wärmestube für die, die an diesem Abend nirgendwo anders hinkönnen. 

Ich bekomme wie immer eine Cola. Ein Cola haben wir gesagt. Ein Coca Cola. Ich trinke es in kleinen Schlucken, damit es länger anhält. Denn wenn das Glas leer ist, werden wir wieder gehen. Oder ich trinke es in hastigen Zügen, verschlucke mich an der Kohlensäure, muss husten. Oder es ist kein Coca Cola, höchst wahrscheinlich sogar, sondern eine dieser billigen Kopien, die aus dem Zapfhahn kommen und lange nicht so gut schmecken wie das Original. Oder es ist ein Afri Cola in dieser taillierten Flasche. Bekomme ich eine Flasche auf den Tisch gestellt oder ein Glas? Es ist sicher keine Dose. Der Tisch ist schmal und braun furniert. Es liegt ein Tischtuch darauf. Oder eine Zierdecke, zur Feier des Tages? Gibt es Deko? Zweige, Kerzen, Glöckchen, Engel? Ich erinnere mich nicht. Nur daran: Es ist Weihnachten.

Es ist Weihnachten und ich sitze mit alten Männern im Bahnhofsrestaurant einer österreichischen Stadt. So klein ist sie nicht. Sie ist die zweitgrößte österreichische Stadt, aber für deutsche Verhältnisse trotzdem eine Kleinstadt. Sie hat drei Universitäten, aber das weiß ich damals noch nicht. Auch nicht, dass ich sie verlassen werde und warum. Noch ist alles pure Gegenwart. Und diese Gegenwart stinkt verdammt gut. Außer meinem Vater und mir sitzen nur Penner, damals sagten wir Sandler, in diesem, wir sagten Tschocherl. Ich kann mir ihre neugierigen Blicke vorstellen. Ein älterer Mann mit einem Kindergartenkind an diesem Ort. Das finden sogar die seltsam, denen sonst alles egal ist. Aber: Dieses Kind ist glücklich.

Wie jedes Jahr darf es an Weihnachten, wie sagten zu Weihnachten, also am Heiligen Abend, wenn es finster ist, die Züge anschauen gehen und die Geleise. Viele Menschen kommen nicht mehr an um diese Zeit, alle hatten es bereits eilig, zu ihren Geliebten zu kommen – oder zu ihren Gehassten, jedenfalls eilig, jetzt ist nur noch der Dreck zurück geblieben an den Bahnsteigen, auch der menschliche. Kann man sich heute noch oder wieder eine Kleinstadt in Europa vorstellen, in der ein Vater an einem Weihnachtsabend nirgendwo anders hingehen kann als zum Bahnhof, weil alle Lokale geschlossen sind an diesem Feiertag, alle Museen, alle Bibliotheken, Kinos, was weiß ich, wo man damals mit einem Kind hätte hingehen können, um die Zeit zu überbrücken, bis der Weihnachtsbaum geschmückt ist, wir sagten der Christbaum aufgeputzt

Und im Park war es zu kalt und auf der Straße, weil damals gab es noch kalte Winter und vielleicht sogar Schnee, jedenfalls aber Nebel, die Geleise glänzten und verloren sich im Zwielicht. Die Zeit, die es zu überbrücken galt, war nicht lang, eine Stunde nur, wahrscheinlich zwei. Der Baum war nicht groß, die Familie musste sparen oder wollte es, zumindest am Baum. Also wurde die Fichte, niemals Tanne! auf einen Beistelltisch gestellt, damit sie mehr hermachte, sie zu schmücken wird nicht lange gedauert haben, keine Ewigkeit, nur eine Stunde, vielleicht zwei, galt es, das Kind außer Haus zu betreuen. 

In einem Dorf hätte man vielleicht die Nachbarn besuchen können, nicht aber in der Stadt, noch dazu, weil auch die anderen Familien gerade mit dem Schmücken des Baumes beschäftigt waren, weiß der Teufel, wie die ihre Kinder ablenkten. Man stelle sich also einen Vater vor, der das ganze Jahr über nie etwas mit dem Kind alleine unternahm, es nie beschäftigte, fütterte, mit ihm spielte oder ihm vorlas. Das machten die Mutter oder die Großeltern. Das Kind war glücklich auch ohne einen Vater, der mit ihm spielte, es kannte das Leben nicht anders. Es kannte den Vater morgens und mittags hinter seiner Zeitung, abends war es im Bett, wenn der Vater nach Hause kam.  Das Kind vermisste ihn nicht. Wie kann man etwas vermissen, das man nicht kennt? Ein Gefühl von Verlust dort erst, wo davor etwas war.

Den Bahnhof allerdings kannte es. Das Kind freute sich auf den Bahnhof. Er bedeutete Abenteuer und Zeit mit dem Vater. Unterhielten sie sich auch über die ankommenden und abfahrenden Züge? Ich erinnere kein Gespräch, nur den heimeligen Gestank der Restauration, in der hauptsächlich Alkohol konsumiert wurde. Es waren freundliche Gesichter um mich, alle bestaunten das Kind und freuten sich, dass ich da war. Man hätte mir gerne eine Krippe errichtet. Ich war das Weihnachtswunder. Ein Kind im Bahnhofsresti an Heiligabend. Ich segnete die Verlorenen mit einem Lächeln.

Kann man sich heute noch einen Vater vorstellen, der so wenig  mit seinem Kind unternahm, dass er an Weihnachten, wir sagten zu, nichts Besseres zu tun wusste, als mit dem Kind an den Bahnhof zu gehen? Keine andere kindliche Erinnerung habe ich an diesen Vater, wo er mir so exklusiv zugewandt gewesen wäre wie an diesen Weihnachtsnachtmittagen. Denn es war nicht spät, vielleicht vier Uhr nachmittags. Aber die Stadt war schwarz und ausgestorben, keine Punschhütten, keine Weihnachtsbeleuchtung, keine Engelschöre.

Der Bahnhof war nicht weit entfernt, fußläufig erreichbar auch mit den kleinen Schritten eines Kindes. Und wahrscheinlich haben wir uns an der Hand gehalten. Ich erinnere mich nicht, ob eine derartige Intimität möglich gewesen wäre. Aber wahrscheinlich war sie es, denn er musste mich ja halten und behüten, damit ich ihm nicht davonlaufe, unvernünftig wie ich war. Oder vom Bahnsteig purzle im eisigen Wind oder in die Unterführung oder von der Bordsteinkante, wir sagten Gehsteig. Es gibt keine Fotos von uns am Bahnhof, wer hätte sie machen sollen und Handys gab es noch keine und Selfies hätte man keine gemacht, aus Scham, mit einem Kleinkind am Bahnhof zu sein an einem Heiligabend. Dabei waren es die glücklichsten Momente, glücklicher als unter dem Baum, immer Fichte, nie Tanne. 

Und die Fotos in den abgegriffenen Alben zeigen das Kind, die Mutter, den Vater und die Großeltern nach der Bescherung, das Christkind war schon da gewesen, die Geschenke ausgepackt. Ein glückliches Kameralächeln, dabei geschah das eigentliche Weihnachtswunder am Bahnhof, war bereits vorbei, dieses Wunder alle Jahre wieder. Und wir haben nie darüber gesprochen mit dem Vater, wie seine Weihnachten waren als Kind in den frühen Dreißigerjahren. Ich weiß nur, dass der Vater des Vaters herunter gestiegen war vom Berg, weil es dort nichts zu erben gab als unehelicher Sohn, also auch nichts zu fressen, nicht einmal als Knecht. 

Und in dieser Kindheit meines Vaters wird es nicht viele Geschenke gegeben haben, sondern große Armut – und sie endete bald. Die Kindheit, nicht die Armut: Mit sechzehn Jahren einberufen werden, als der Krieg längst verloren ist und noch immer Schützengräben ausgehoben werden müssen und wer desertiert, wird erschossen. Und er, dieses dünne Kind mit dem Pferdegesicht als Flakhelfer, also denen an der Flak, der Fliegerabwehr, zur Hand gehen und die verwundeten oder toten Kameraden wegschleppen helfen. Und die einzige Erzählung davon ist die des Endes, als er endlich aus war der Krieg und sie interniert wurden, auch die Flakhelfer, weil in Uniform und Armeeangehörige, also Soldaten, feindliche. 

Und wie sie, also er und ein anderes Kind, vom offenen LKW gesprungen sind und die Uniformen ausgezogen haben und weggeworfen und irgendwer hat sich dann doch ihrer erbarmt, weil sie so dünn waren und erfroren und dumm. Und hätte man von so einem Vater erwarten dürfen, dass er mit seinem Kind, seinem dritten wohlgemerkt, auf einen Spielplatz geht? Wo hätte er das lernen sollen, wer hätte ihm das beigebracht? Aber die Frauen können es doch? Ist das Instinkt oder Erfahrung? Sie werden antrainiert als kleine Kinder mit Puppenwagen und Babyausstattung. Meinem Vater fehlte die Erfahrung, aber er gab sein Bestes.  Am Bahnhof am Heiligen Abend zeigte er mir seine beste Seite unter Alkoholikern und Junkies. Nie fühlte ich mich dabei unwohl oder in Gefahr. Immer privilegiert, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

Die Mutter wusste von unseren Ausflügen an den Bahnhof. Ob sie sie begrüßte, weiß ich nicht, aber sie sprach kein Verbot aus. Wo hätte dieser hilflose Mann denn sonst hingehen sollen mit dem Kind für eine Stunde oder zwei an einem Weihnachtsnachmittag? Da ist der Bahnhof gerade noch gut genug gewesen, wo das Kind immer so begeistert davon erzählt. Lieber als in den Kindergarten, lieber als in den Tierpark geht es an den Bahnhof mit dem Vater. Ohne die Zustimmung der Mutter wäre der Vater nicht mit dem Kind an den Bahnhof gegangen, weil in diesem Haushalt bestimmte die Mutter. Sie war nur so freundlich, ihn glauben zu lassen, dass er der Bestimmer war. Aus Gewohnheit vielleicht oder um des lieben Friedens Willen. Dabei wussten alle, dass sie die Bestimmerin war, sie selbst, die Großeltern und das Kind. Sogar der Vater wusste es. Er war nur so freundlich, mitzuspielen bei der Hierarchiemaskerade.

Er brachte das Geld ins Haus, ganz klassisch, verschwand morgens in seinem Anzug, ging außer Haus an seine Arbeitsstelle und kam zum Mittagessen wieder nach Hause, das ihm seine Ehefrau oder wechselweise die Schwiegermutter zubereitet hatten. Denn die Mutter und die Großmutter kochten abwechselnd, montags und mittwochs die Großmutter und dienstags und donnerstags die Mutter. Damals hatten die Banken noch eine Mittagspause und niemand hätte sich vorstellen können, dass es bald keine Bankbeamten mehr geben würde, nur noch Self Service Stationen und Automaten. Damals war mein Vater stolz auf seinen Beruf und er hätte es gerne gesehen, wenn ich ihn auch ergriffen hätte, diesen seriösen Beruf. Ja, er drängte mich sogar dazu, sollte ich es doch auch einmal so gut haben wie er. Und Banken werde es immer geben, wenn es irgendeinen Beruf immer geben würde, dann den eines Bankbeamten, so seine Überzeugung.

Am Freitag wurde nicht gemeinsam gegessen, denn da fuhr die Kernfamilie, Papa, Mama, Kind, gleich nach Bankschluss zu Mittag in das Wochenenddomizil der Familie. Es war kein Haus, sondern eine Wohnung am Stadtrand, für ein Haus hätte es nicht gereicht. Oder es hätte gereicht, aber die Mutter wollte kein Haus, denn sie hasste das Gärtnern. Alles, nur nicht Gärtnern, war ihre Devise. Vielleicht nicht alles, aber viel. Gärtnern jedoch sicher nicht. Denn sie war eine moderne Frau und wollte keine Marmelade einkochen, ergo auch kein Obst ernten oder Bäume beschneiden oder Sträucher hegen. Sie wollte den Wald und der lag vor der Haustüre. Jeden Samstag machten wir eine Wanderung und jeden Samstag die gleiche. Durch die Siedlung die Straße hinauf, wo bald elegante Villen den Weg säumten, der in einen Pfad überging durch einen lichten Mischwald, der Hohlweg voller Buchenlaub, das duftete, modrig-feucht, aber herrlich, wie kleine Waldgeister, die einem in die Nase fleuchen.

Manchmal war der Hohlweg voller Schnee und die Mutter hatte den Schlitten mit, wir sagten die Rodel, auf der wir nach Besuch der Aussichtswarte und der Mostschenke wieder den Berg hinunter sausten. Das ging sich aus auf einer Rodel, denn der Vater war nie mit auf diesen Ausflügen wegen seines Beines. Er hatte ein verkürztes Bein. Nicht aus dem Krieg, sondern aufgrund eines Motorradunfalls. Er war als junger Mann frontal gegen einen LKW gefahren, ein Wunder, dass er es überlebte. Er war ein wilder Hund gewesen als junger Mann, so die Fama. Ob ihn der Krieg so wild gemacht hatte oder etwas anderes, darüber wurde nicht gesprochen in der Familie. Jedenfalls war er so wild, dass es drei Ehen brauchte, ihn zu zähmen. Erst meiner Mutter gelang es, ihn zu halten, oder aber, er hatte sich, wie man so sagt, die Hörner abgestoßen und es war nicht das Verdienst meiner Mutter, sondern das Alter. Mein Vater war über Vierzig, als ich auf die Welt kam, ein Wunschkind. Heute kein Alter für einen Jungvater, beinahe schon Durchschnitt, damals zumindest ungewöhnlich. Mit seinen bereits weißen Haaren wäre er im Kindergarten für meinen Großvater gehalten worden, hätte er mich abgeholt. Hat er aber nicht. Das war mit seinen Arbeitszeiten in der Bank nicht zu vereinbaren.

Meine Mutter hingegen hatte gut Zeit, sie war Hausfrau – oder sagen wir: Teilzeithausfrau. Darauf hatte sie Wert gelegt. Sie ist nämlich Akademikerin, im Unterschied zu meinem Vater, der kein Studium abgeschlossen hat. Sie war die erste  Akademikerin in unserer Familie. Dolmetscherin. Konsekutivdolmetscherin, für Simultan hatte ihr der Ehrgeiz gefehlt. Und für das Unterrichten an einer Volkshochschule war das Konsekutivdolmetschen noch immer eine Überqualifizierung. Was sie nicht störte. Sie war perfekt zufrieden damit. Zumal ihr Arbeitsplatz im Haus gegenüber unserer Wohnung lag. Sie unterrichtete abends. An Montagen und Donnerstagen durfte ich meiner arbeitenden Mutter vom Fenster aus zuwinken, bevor ich von der Großmutter zu Bett gebracht wurde. Ich sah, wie sie zu Stundenbeginn die Tafel energisch mit einem Schwamm abwusch und war mächtig stolz auf sie.

Dass sie auch einer anderen beruflichen Tätigkeit hätte nachgehen können, weiter weg von mir, auf diese Idee kam ich nie. Sie war jeden Tag da und wenn ich aus der Schule nach Hause kam, stand sie im Treppenhaus, wir sagten Stiegenhaus, am Fenster und wartete auf mich. Sie war eine Teilzeithausfrau und stolz darauf, nicht kochen zu können. Montags und mittwochs gab es also die Kümmelbraten und gefüllten Paprika der böhmischen Großmutter, die Krautroladen und Palatschinken, die Erdäpfelsuppen und das Reisfleisch. An Dienstagen und Donnerstagen wurde die moderne Küche meiner Mutter serviert, Spiegelei mit Tiefkühlspinat, Kartoffelpürree aus der Packung mit Würsten, Tomatensuppen aus der Dose. Ja, meine Mutter war vielseitig gebildet. Ich aß alles gern, außer steirisches Wurzelfleisch, das, natürlich, die Großmutter zubereitete, weil man dafür Meerrettich reiben musste, wir sagten  Kren.

Ich sah beiden gerne beim Kochen zu und irgendwas ist doch hängen geblieben: Ich weiß zum Beispiel, dass man Leber vor dem Anrösten nicht salzen darf – sonst wird sie zäh, wie eine Schuhsohle, dass Paprika bitter wird, wenn er anbrennt, was schlecht für das Paprikahendl ist, und dass Semmelknödel gar sind, wenn sie aufschwimmen. Nie würde ich sie in einer Serviette zubereiten, so machen das nur die schlechten Köchinnen, war meine Großmutter überzeugt. Meine Mutter kaufte natürlich Fertigknödel und Fertigkraut aus der Packung, was ich noch immer sehr praktisch finde. Mein Vater kochte nie. Nie sah ich meinen Vater am Herd stehen, kein einziges Mal. In Ermangelung eines Gartens auch nie an einem Griller, nie. Nie hätte er einen Abwasch gemacht, nie einen Staubsauger bedient, auch keinen Besen benutzt. Den Haushalt teilten sich gerecht 50:50 die Mutter und die Großmutter. Was machte eigentlich der Großvater?

Er las dem Kind vor. Er zeigte ihm die wunderbare Welt der Bücher, ging mit ihm in den Park, bewachte das Kind am Spielplatz aus der Ferne, auf einer Bank sitzend, gerade noch in Sichtweite, man hätte ihn für einen Fremden halten können. Das Kind durfte selbst hinfallen und wieder aufstehen, musste die Schaukel selber anschubsen, selber auf die Rutsche klettern, selber das Karussell drehen, bis ihm schlecht wurde. Nur manchmal, wenn das Knie ernstlich angeschlagen war, erhob sich der Großvater und kam näher, besah sich den Schaden, pustete drauf, tröstete und ging wieder zu seiner Bank. 

An den Bahnhof ging der Großvater nie mit dem Kind, obwohl doch er bei der Eisenbahn gewesen war und nicht der Vater. Er der eigentliche Bahnhofsexperte, weil Fahrdienstleiter, er von Berufs wegen an Bahnhöfen ansässig, nicht der Vater, der in einem warmen Büro saß und niemals solche Verantwortung getragen hatte für viele Menschenleben. Als Zeichen dieser Verantwortung tritt der Fahrdienstleiter bis heute an kleinen Bahnhöfen bei der Durchfahrt von Expresszügen mit seiner roten Kappe auf den Bahnsteig hinaus um zu signalisieren: Ich bin da und achte auf euch, bin nicht betrunken, stehe gerade. Bei jeder roten Kappe muss ich an den Großvater denken.

Sie mochten einander nicht, der Großvater und der Vater, aber sie tolerierten einander. Zu groß waren die Gegensätze, zu gering der Altersunterschied. Der eine zu spät geboren für den ersten Weltkrieg, er hatte Glück gehabt. Der andere zu früh, um dem zweiten zu entgehen, indoktriniert in einer Weise, die er bis zu seinem Tod nicht ablegen konnte. Der eine also rot wie seine Kappe, der andere grünbraun wie sein Steireranzug, an manchen Stellen mehr braun als grün, aber verbrämt. Wie sie es aushielten unter einem Dach? Über Politik wurde nicht gesprochen bei Tisch, unterschiedliche Zeitungen gelesen, unterschiedlichen Fußballvereinen zugejubelt: Sturm oder GAK, das war auch eine ideologische Frage, wie alles, im Österreich der Sozialpartnerschaft. Ja, vielleicht lebten sie eine Sozialpartnerschaft, mein Vater und mein Großvater – von ihren Frauen gelitten.

Und vielleicht ist es Zufall, dass ich Sturm bin und nicht GAK – oder kein Zufall, sondern Sozialisierung. Weil der eine einfach mehr Zeit mit mir verbrachte als der andere, mir das Schach spielen beibrachte und das Eislaufen und das Skifahren. Und ich wäre GAK, hätte mich mein Vater vom Kindergarten abgeholt und in den Park begleitet und mich das Schwimmen gelehrt. Und heute, wo ich stolz bin auf meine politischen Überzeugungen und sicher, das Richtige zu denken, frage ich mich doch manchmal, wie es ausgegangen wäre, hätte mich mein Vater nicht nur an den Bahnhof gebracht an Heiligabend. Ich wäre ein anderer Mensch. 

Aber ich denke gern an ihn und seine Geschichten, wie er einmal über einen Balkon fliehen musste, weil der gehörnte Ehemann ihn mit einer Waffe bedrohte und wie er mit seinem VW-Käfer rasant um die Ecke bog. Ja, wie man ein Auto betankt, ist bei näherer Betrachtung das Einzige, das ich bewusst von meinem Vater gelernt habe. Er hatte die Gewohnheit, immer exakt um hundert Schilling zu tanken, also nicht voll oder auch nicht halb voll. Exakt hundert Schilling, um den Überblick zu bewahren, wie viel er gefahren sei und wie viel er dabei verbraucht habe. Lange Strecken, also die ins Ausland, fuhr immer meine Mutter. Sie war auch die bessere Autofahrerin, aber so freundlich, ihn wissen zu lassen, es sei wegen seines verkürzten Beines. Er war so freundlich, ihr das zuzugestehen. Sie führten eine gute Ehe.

Heute weiß ich, dass diese Ehe arrangiert war. Also nicht von ihren Eltern, sondern von ihnen selbst. Sie hatten einander über eine Announce einer Heiratsagentur kennen gelernt. Heute würde man sagen Parship oder Tinder. Aber es war viel aufwendiger, man konnte einander nicht einfach wegwischen. Briefe mussten geschrieben und abgesendet werden, erhalten und beantwortet. Fotos gemacht, das heißt auf Filme gebannt und ins Labor gebracht und abgeholt und dann erst ausgesucht. Und einem Briefkuvert beigelegt oder nicht. Und mein Vater erwähnte schon im zweiten Brief sein verkürztes Bein. Es war Sommer und er schlug sofort ein Treffen im Schwimmbad vor, um es herzuzeigen. Er war ein sehr guter Schwimmer und das verkürzte Bein störte meine Mutter nicht. Und es überraschte mich immer wieder, wie gut diese selbst arrangierte Ehe gehalten hat. Bis ans Ende, das dann doch überraschend kam trotz des großen Altersunterschiedes zwischen meinen Eltern. 

Das letzte Gespräch mit meinem Vater war ein Streit, ob am Telefon oder persönlich, ich weiß es nicht. Es ging ums Geld und ein Studium, das schon zu lange dauerte. Dabei war es beendet und zur mündlichen Diplomprüfung ging ich in Schwarz bald nach dem Begräbnis. Nur wenige Tage trennten die beiden Ereignisse. Sie fanden ihn tot, im Wohnzimmer bei Tisch sitzend, den Arm aufgestützt. Ich darf mir also vorstellen, dass es kein arger Todeskampf war, sonst wäre er zu Boden gestürzt. Er war wohl eher überrascht worden, angezogen und bei Tisch. Erst seit kurzem in Rente, wir sagten Pension. Sein ganzes Leben hatte er hart auf diese Pension hingearbeitet, endlich frei haben, nicht mehr in Anzug und Krawatte, sondern in Sneakern, wir sagten Turnschuhe.

Und dann trifft ihn der Tod am Frühstückstisch, die Zeitung lag aufgeschlagen und ob er blau war im Gesicht und seine Augen offen oder geschlossen, ich weiß es nicht. Ich kenne die Szene nur aus Erzählungen, lebte bereits in der anderen Stadt. Er starb allein. Ob es ein Herzinfarkt war oder ein Blutgerinnsel oder ein Asthmaanfall, ich weiß es nicht. Da Fremdverschulden ausgeschlossen wurde, beließ ich es bei diesem Nichtwissen.  Heute denke ich, dass irgendetwas auf der Sterbeurkunde gestanden haben musste. Es interessierte mich nicht. 

Und ich hätte ihn noch einmal besuchen können als Toten. Aber kann man einen Toten besuchen? Oder nur betrachten? Ich fürchtete mich vor dem Anblick. Und ich hätte seine Hand halten können noch einmal, wenn ich mich getraut hätte. Ich aber vermied die Situation, wollte mich nicht überzeugen von seinem Dahinscheiden mit eigenen Augen, wie wir gesagt haben damals. Also blieb sein Tod abstrakt. Ich gehe nicht auf Friedhöfe, was soll ich dort? Ich gehe auf Bahnhöfe und schließe mich an an dieses Strömen. An die Lautsprecherdurchsagen und das Keuchen der Züge und die grellen Farben der Leuchtreklamen. Sie sind meine Aquarien des Glücks und ich durchschwimme sie und tauche ein in den Schwarm der Ankommenden und Abreisenden. Ihre hastenden Schritte, ihre Langeweile, ihren Ärger. Ihr Sehnen. Da steht tatsächlich ein Bursche mit einer roten Rose in der Hand, in stinkenden Sneakern, ich sehe sie stinken. 

Und Menschen laufen und bleiben stehen und ihre Gesichter verfärben sich im Licht der Auslagen grün und gelb. Und Gesprächsfetzen nehmen mich mit und bauen mir Zeittunnel hinaus in das Meeresleuchten der Erinnerung. Und ich weiß nicht, ist es bloß eine Reflektion winziger Teilchen oder strahlt es selbst, aus sich heraus. Ich sitze gerne vor Bahnhöfen auf schmutzigen Treppen und gebe vor, auf jemanden zu warten. Ich schaue gelassen oder ängstlich oder nervös oder zuerst gelassen, dann ängstlich oder nervös. Kontrolliere mein Display oder meine Armbanduhr. Ich spiele mir selbst etwas vor, egal, ob mich jemand tatsächlich beobachtet oder nur das Auge der Überwachungskamera.

Bald schon werde ich mich nicht mehr auf Bahnhöfen herumtreiben dürfen. Sie werden abgeriegelt sein wie U-Bahnstationen, Zutritt nur mit gültigem Ticket. Die schwarze Architektur der Bänke, auf denen man nicht mehr liegen, geschweige denn schlafen kann. Bald sollen wir nicht nur nicht herumlungern, sondern auch nicht auf den Bahnsteigen unseren Geliebten entgegenlaufen oder unseren Gehassten, sie umarmen oder uns von ihnen losreißen.

Aber bis dahin kann ich an einem Ort meinen Vater treffen in jedem Land der Welt. Auf dem Binario Otto in Santa Lucia oder in Bruck an der Mur oder Santiago de Chile. Überall, wo Züge halten, reiche ich ihm die Hand. Und ich freue mich, dass es Väter gibt, die mit ihren Kindern spielen und auf Bänken sitzen und pusten, wenn es zu arg weh tut. Und kochen, Tomatensuppe aus der Dose oder selbst gefüllte Paprika. Ihre Söhne und Töchter zu Bett bringen oder aufwecken für die Schule. Und auch wenn es nicht mehr notwendig ist, einem Kind vorzumachen, dass ein Engel oder Gottessohn, wir sagten Christkind, den geschmückten Baum bringt, wir könnten doch an einem kalten Dezembernachmittag für eine Stunde oder zwei an den Bahnhof gehen. Vorbei an den Pissecken in den Unterführungen, die inzwischen hell erleuchtet sind,  und den schlechten Atem schlucken der Ausgestoßenen, wenn sie denn noch bleiben dürfen irgendwo an einem solchen Tag. Und die Lichter der Anzeigetafeln und Leuchtreklamen färben ihre Gesichter rot und blau und sie zucken noch ein wenig, bevor sie ruhig werden. Es sieht so friedlich aus. Aber das täuscht.

Erschienen in Literatur und Kritik 2023, S. 92 ff., Hrsg. von Ana Marwan